Berichte von Soldaten an der Grenze sowie von der NZZ ausgewertete Videos zeugen vom Versagen des israelischen Militärs und der Geheimdienste. Wie konnte das passieren?
Rewert Hoffer, Forrest Rogers
4 min
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«Wir haben alle Kibbuz-Bewohner ermordet.» So beendete ein Hamas-Führer eine Übung der Terrormiliz im Gazastreifen – vier Monate vor dem Massaker in Israel am 7.Oktober. Eine Unteroffizierin des israelischen Militärgeheimdiensts hörte dieses Gespräch des Hamas-Führers mit und gab die Information an ihre Vorgesetzten weiter, wie die Zeitung «Haaretz» berichtet. Ihre Warnungen wurden jedoch ignoriert. Wie so viele andere auch.
Der 7.Oktober markiert das grösste Versagen israelischer Geheimdienste seit dem Jom-Kippur-Krieg fünfzig Jahre zuvor, als die arabischen Nachbarstaaten Israel überraschend angriffen. Bereits kurz nach dem Angriff war bekanntgeworden, dass der israelische Sicherheitsapparat und die Regierung Hinweise auf den Angriff nicht ernst genommen hatten. Seither erhärtet sich immer mehr der Verdacht, dass das Massaker zu verhindern gewesen wäre.
Die Warnungen, die ignoriert wurden
Hamas-Terroristen stürmen israelische Häuser, greifen israelische Panzer an und verschleppen Gefangene als Geiseln. Alles, was die Terroristen am 7.Oktober in die Tat umsetzten, hatten sie zuvor für alle sichtbar gemacht. Ein von der NZZ verifiziertes Video vom 12.September zeigt, wie die «Gemeinsamen Palästinensischen Widerstandsgruppen» in Gaza den Angriff auf Israel durchspielen.
Darin beschiessen Kämpfer etwa Gebäude, auf denen der Davidstern gemalt ist, und stürmen Häuser, die jenen in den Kibbuzim ähneln, die wenige Wochen später zu Schlachtfeldern werden sollten. Der von der Hamas dominierte Zusammenschluss aller militanten Palästinenserorganisationen in Gaza veröffentlichte das Video auf einem Telegram-Kanal, der inzwischen gesperrt ist.
Ein weiteres verifiziertes Video zeigt die Ausbildung von Hamas-Terroristen an Gleitschirmen. Diese benutzten sie, um am 7. Oktober auf das Gelände des Nova-Technofestivals in der Negev-Wüste zu gelangen. Dort schlachteten sie rund 360 Menschen ab. Dieses Video wurde von den Kassam-Brigaden am 18.August 2022 gefilmt, dem bewaffneten Arm der Hamas. Veröffentlicht wurde es am Tag des Angriffes – über ein Jahr danach.
Doch die Vorbereitungen der Terroristen reichen sogar noch weiter zurück. Ein von der NZZ verifiziertes Video vom 30.Dezember 2020 zeigt ebenfalls, wie Geiselnahmen, die Erstürmung von Häusern sowie eine Invasion über den Seeweg geübt werden.
Neben diesen öffentlich zugänglichen Quellen besitzt die israelische Armee auch weitere Informationskanäle. In den israelischen Medien sagten in den vergangenen Tagen mehrere sogenannte Späherinnen anonym aus, sie hätten vor Vorbereitungen zu einem grossen Angriff gewarnt. Überwiegend Frauen übernehmen an der Grenze zum Gazastreifen die Aufgabe, die Aktivitäten der Hamas und anderer Terrorgruppen zu überwachen und auszuwerten.
Diese Frauen hatten in den Wochen und Monaten vor dem 7.Oktober immer wieder Übungen der Hamas beobachtet, an denen auch hochrangige Kommandanten der Terrororganisation teilnahmen. Die Soldatinnen schlossen daraus, dass es sich dabei nicht um normale Übungen der Miliz handelte, sondern um die letzten Vorbereitungen vor einer militärischen Operation.
Gemäss einem Bericht der «Financial Times» gaben die Soldatinnen die Informationen an ihre Vorgesetzten im israelischen Militärgeheimdienst weiter. Diese nahmen die Warnungen vor einem bevorstehenden Angriff jedoch nicht ernst. Sie gingen davon aus, dass es sich nur um eine Schau handele, und sprachen von einem «erfundenen Szenario».
Schliesslich existierten neben den öffentlich zugänglichen Hinweisen und den Berichten der eigenen Soldatinnen auch noch Warnungen aus dem Ausland. Ein ägyptischer Geheimdienstmitarbeiter sagte der «Times of Israel» nur zwei Tage nach dem Angriff der Hamas, dass Kairo Israel vor einem Angriff der Islamisten gewarnt habe.
Dies bestätigte einen Monat später der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im amerikanischen Repräsentantenhaus, Michael McCaul. Am 10.November sagte der Republikaner: «Wir wissen, dass Ägypten die Israeli drei Tage vorher warnend darauf hingewiesen hat, dass so etwas passieren könnte.» Laut McCaul geht aus amerikanischen Quellen auch hervor, dass der Angriff bis zu einem Jahr im Voraus geplant worden war. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu bestritt aber, von Kairo gewarnt worden zu sein. Anderslautende Berichte seien «Fake News».
Israel hat die Hamas unterschätzt
Die israelische Armee und die Geheimdienste hätten wissen können, was am 7.Oktober auf sie zukommt. Weshalb haben sie die vielen Warnungen in den Wind geschlagen?
Israel hat wohl die Fähigkeiten der Hamas unterschätzt, einen solchen koordinierten Angriff mit bis zu 3000 Kämpfern auszuführen. Auch verliess es sich zu sehr auf den Grenzzaun, der in den Jahren zuvor stetig ausgebaut und mit neuster Technologie ausgestattet worden war. Die letzte grössere Eskalation an der Grenze ereignete sich 2018, als Palästinenser mit Benzin gefüllte Drachen nach Israel schickten – kein Vergleich zum 7.Oktober.
Vor allem hat Israel aber offenbar den Willen der Hamas unterschätzt, Israel anzugreifen. Das mit dem israelischen Sicherheitsapparat verbundene Meir Amit Intelligence and Terrorism Information Center schrieb noch im Januar, dass sich die Hamas der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage im Küstenstreifen verschrieben habe und daher mit weniger terroristischen Aktivität zu rechnen sei. Die grössere Gefahr gehe von Terroristen im Westjordanland aus.
Dies war auch das Kalkül Netanyahus. Viele Israeli nehmen es ihrem Ministerpräsidenten übel, unter dem Druck der nationalreligiösen Siedler vor dem Krieg Truppen vom Gazastreifen ins Westjordanland verlegt zu haben. Netanyahu unterstützte lange Jahre die Herrschaft der Hamas in Gaza, da die palästinensischen Gebiete so zwischen den Islamisten und der Autonomiebehörde im Westjordanland gespalten blieben und ein souveräner Staat Palästina weiter in die Ferne rückte.
Israels Militär und Geheimdienste haben trotz vielfältigen Hinweisen vor dem 7.Oktober nicht genau hingeschaut – und die Regierung hatte wenig Interesse daran, ihre bisherige Politik gegenüber Gaza zu ändern.
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